Für drei Babies in sehr unterschiedlichen Welten beginnt im November 1998 der Weg ins Leben.
- Nguyen Ha Le in einem spärlich ausgestatteten Krankenhaus in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi.
- Paulina Hoffmann medizinisch rundumbetreut in einer deutschen Universitätsklinik.
- Francis Mutia Mbili in einer Hütte, im Dorf Musalala im südöstlichen Kenia.
In diesem Moment sind alle gleich: Geborgen im Leib der Mutter über neun Monate herangewachsen, ausgestattet mit den gleichen Organen und Gliedmaßen, mit Nervenzellen und Blutkreisläufen.
Drei gleiche Starts in Leben, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.
Wird Ha Le, der geplante zweite Sohn einer aufstrebenden Handwerkerfamilie in einem überbevölkerten Haus im überbevölkerten Hanoi je auf einen Baum klettern? Was wird Paulina, das ersehnte Einzelkind eines deutschen Ehepaares, mit der materiellen Sicherheit, in die sie hineingeboren wird, anfangen? Wird die Mutter von Francis Mutia, eine arme Bäuerin, es schaffen, das ungewollte neunte Kind überhaupt zu ernähren?
Diese drei kleinen Lebensläufe auf drei Kontinenten standen im Oktober 1999 für das große Ganze. Für die Geburt des sechs Milliardsten Erdenbürgers. Der US Bevölkerungsfond hatte den 12. Oktober zum „Tag der sechs Milliarden“ erklärt und GEO die drei Alltagsbiographien zum Titelthema gemacht.
Drei Geschichten sollten davon erzählen welche Grundbedürfnisse ein Mensch hat, egal wo auf dieser Welt er geboren wird. Wir wollten versuchen herauszufinden, wo gleichen und wo unterscheiden sich Erziehungskonzepte, kulturelle Strukturen, Träume, Ängste und Wärme. Welches Spielzeug und welche Ernährung bekommen sie.
Es sollten Langzeitaufnahmen werden. Wir wollten die Fotografen bitten, sechs Monate vor Ort zu bleiben.
Für Deutschland stand der Fotograf Ronald Frommann fest, weil er Initiator der Idee war, aber für Vietnam und Kenia wollten wir gern Fotografinnen finden. Junge Frauen, die familiär frei und bereit waren die Herausforderung anzunehmen sechs Monate in einem fremden Land zu leben. Ich suchte an Fachhochschulen und Universitäten, merkte aber rasch, dass es besser war, Frauen zu schicken, die etwas mehr Lebenserfahrung hatten.
Also suchte ich bei avancierten Fotografinnen und wurde auf Andrea Künzig aufmerksam gemacht. Andrea ist als Fotografin Autodidaktin. Sie hatte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert und ging 1994 nach Jerusalem, mit der Idee, den Nahost-Konflikt zu dokumentieren. Dabei entdeckte sie die Kamera als das für sie richtige Ausdrucksmittel. Später akzeptierte sie der berühmte Professor Arno Fischer in der damaligen Schule „Fotografie am Schiffsbauerdamm“. Sie gehörte einige Jahre zum Kreis der Fotografen, die sich bei Arno Fischer zuhause über Fotografie austauschten. Dabei lernte sie mehr über das inhaltliche, gestalterische und technische Wesen der Fotografie, verlor aber nicht ihren unverstellten, aufrichtigen Blick.
Arno Fischer war es auch, der sie dazu ermunterte mit ihrer Arbeit über den Nahen Osten ein Buch zu machen, das 2004 herauskam. Viele Situationen, die sie bei dieser Arbeit erlebt hatte, waren traumatisierend und so wurde ihr klar, dass sie bis auf weiteres keine Kriegs- oder Krisenfotografie machen wollte.
Nun konnte sie sich also bei GEO entscheiden zwischen Vietnam und Kenia. Andrea wollte gern nach Afrika und so fuhr sie im Herbst 1998 los. Die Übersetzerin Susan Korte, die im Ort wohnte, half uns, eine Frau zu finden, die kurz vor der Entbindung stand. Es war Susanna Mbili, 34 Jahre alt. Es war ihr neuntes Kind. Die anderen Kinder sind rasch hintereinander geboren worden. Kaum hatte sie sich von einer Schwangerschaft erholt, trug sie schon das nächste. Ihre Kraft war erschöpft, mit jeder Geburt ein wenig mehr. Dieses Kind hatte nicht sein sollen.
„Löst alle Knoten“, ruft die Hebamme, „löst alle Knoten im ganzen Haus, löst alle Knoten sofort. Bindet die Schuhbänder auf und die Wäscheleine los. Öffnet den Sack mit Mais, trennt die Socken auf. Denn das Kind will nicht kommen. Etwas hält es fest im Leib der Mutter. ...“ - so beginnt der Text, den die Autorin Johanna Wieland für GEO schrieb. Die Hebamme ist verzweifelt. Sie gibt Mutter und Kind auf. Die Nachbarin kommt gelaufen. „Du wirst das Kind nicht sterben lassen“, schreit sie. Sie hält Susanna Mund und Nase zu und lässt nicht locker so sehr die Gebärende auch um sich schlägt in ihrer Not und während sie fast erstickt in einem Krampf, der ihren Leib bäumt, rettet sie ihr Kind vor dem Ersticken: Francis Mutia Mbili ist auf der Welt.
Wie gesagt, es war 1998 und da wurden Fotos noch mit Licht auf empfindliches Material gemalt, auf Diafilm. Damals konnte man nicht vor Ort schon das Ergebnis kontrollieren. Eine große Verantwortung, die heute vermutlich jungen Fotografen Schweißperlen auf die Stirn treibt.
An einem November Nachmittag landeten die unentwickelten Filme, die Andrea Künzig aus Afrika schickte auf meinem Schreibtisch in Hamburg: nach der Entwicklung im Labor öffne ich die gelben Plastikbehälter und lege ein Diapositiv nach dem anderen unter meine Lupe auf dem Leuchttisch. Ich sehe das Bett mit einem Haufen feuchter Lumpen, die Erschöpfung und die entsetzliche Armut. Ich sehe die alte Hebamme deren einziges Hilfsmittel eine Rasierklinge ist, mit der sie die Nabelschnur durchtrennen will. Dann sehe ich das Neugeborene und erschrecke: Es ist weiß. „Oh“, durchfuhr es mich. Es ist ein Albino.“ Nicht optimal für unsere Geschichte, denn es sollte ja ein Vergleich unter drei ganz normalen Babys sein. Es wurde für mich eine Lektion fürs Leben: Alle Babys werden weiß geboren und bekommen erst nach wenigen Woche die endgültige Pigmentierung.
All diese Dinge hält Andrea Künzig für uns fest und bewegt sich in den sechs Monaten ihres Aufenthaltes in der Umgebung von Musalala, im Gebiet Kambaland, östlich von Nairobi.
Wir alle bei GEO und auch unsere Leser fanden diese Geschichte sensationell und verliebten uns in die kleinen Menschen, die wir alle mitgeboren hatten. Und so beschlossen wir, nach fünf Jahren, nachzuschauen, was aus den Kindern geworden ist. Die Zahl der Menschen auf der Erde lag inzwischen bei 6,3 Milliarden.
Was Andrea und unsere Autorin Johanna Wieland erwartete, war ein gesundes Kind. Francis wird auch „The Boss“ genannt. In den ersten Monaten seines Lebens hat er die Welt vom Rücken seiner Mutter aus betrachtet. Im Tuch hat sie ihn die Hügel hinauf und hinab getragen. Er hat ein wenig Glück in die Familie und in das Dorf gebracht, denn - auch wenn es das journalistische Ethos verbietet in Geschichten einzugreifen - wollten wir dem Schicksal der Familie nicht seinen Lauf lassen. Wir und unsere Leser haben Geld gespendet, das Susan Korte zu 100 % in die Schule, Schulbücher und in die Ausbildung der Kinder in Dorf investiert hat. Trotzdem ist Notstand in der Gegend der Normalfall. Und unsere Autorin stellt fest, dass 2003 AIDS die jüngste Plage in der Gegend ist, als ob die anderen Plagen nicht reichen würden.
GEO hat einen langen Atem und das ist schön. Und ich hoffe sehr, dass dieser Atem noch sehr sehr lange anhalten wird. So waren wir im Jahre 2009 in der Lage Andrea Künzig und die anderen Fotografen nach zehn Jahren noch einmal zu schicken und zu schauen wie es den Kindern geht. Mit unserer Unterstützung können alle Kinder der Familie Mbili zur Schule gehen. Allein der Besuch dieser Schule für die vier ältesten hat für vier Jahre soviel Geld gekostet, dass der Vater der Kinder, der in Nairobi als Gärtner arbeitet, acht Jahre arbeiten und dafür alles verdiente in diesen Topf geben müsste. Da wird das Menschenrecht auf Bildung zur Farce - schreibt unsere Autorin.
In den Jahren danach nimmt Andrea so viele Aufträge wie möglich an, um wieder in Afrika sein zu können. Sie reist für Frauenzeitschriften und für Hilfsorganisationen nach Uganda, Tansania, Äthiopien und immer wieder nach Kenia. Sie möchte ein Afrika zeigen, das jenseits der Nachrichten von Hunger, Terror und Ebola immer noch unbekannt ist. Sie möchte die Poesie zeigen in der afrikanischen Existenz.
Und auch nach 15 Jahren schicken wir die Fotografen und unsere Autorin wieder hin um nachzuschauen, was aus den Kindern geworden ist. Momentan liegt die Zahl der Menschen auf der Erde bei 7,3 Milliarden.
Strukturell hat sich seit 1998 wenig an der Arm-Reich-Aufteilung unserer Welt verändert. Auch wenn Kenia heute beachtliche 13,5 % seines Staatshaushaltes für Bildung ausgibt.
„Die Musungu, die Weiße, ist da“, rufen die Kinder sobald sie im Dorf Musalala ankommt. Genau wie vor 15 Jahren wird sie von Kindern umringt, die sie als „Fernseher betrachten“, so formuliert Andrea das. „Was macht sie jetzt mit ihrer Hand. Wie trinkt sie Wasser. Wie kratzt sie ihren Flohstich“ - alles ist spannend an dieser Weißen.
Wenn Andrea auf der Terrasse der Familie Mbili steht, von der man einen traumhaften Blick in tiefgrüne Vegetation hat, die auf der roten Erde wächst, so hat sich in 15 Jahren nicht viel geändert. Wenige Strommasten sind aufgetaucht und bei Dunkelheit sieht man ein paar Lichter.
Ein Wunsch, den alle drei 15jährigen gleichermaßen haben, ist es, im Internet verbunden zu sein. Paulina hat selbstverständlich ein Smartphone. Ha Le ist fast süchtig und verbringt jede freie Minute vor seinem Computer. Und Francis größter Wunsch ist es, eine email Adresse zu haben. Als die Reporter ihn zu seinem Geburtstag nach Nairobi einladen, möchte er in einem Internet Café eine email schreiben. Als sein Konto eingerichtet ist und er für seine erste Botschaft auf „senden“ drückt, sagt er glücklich:
„Jetzt bin ich verbunden“
„Verbunden, mit wem?“, fragt Johanna Wieland
„Mit der Welt“, antwortet er.
Von 2009 bis 2014 lebte Andrea Künzig in Istanbul. Auch die Arbeit dort erschien in einem Buch. Jetzt ist sie wieder auf Zwischenstopp in Berlin und ich bin sehr gespannt wo sie 2018 sein wird, wenn – hoffentlich - jemand von GEO anruft, damit sie nachschaut was aus Francis Mutia Mbili geworden ist, der dann 20 Jahre alt wird.
Ich habe mich auch in diesen kleinen Kerl verliebt und ich bin sicher, dass er ein unbestechlicher aufrichtiger Präsident von Kenia sein wird.